Die Kritik

Es gibt keine Literatur ohne Lesen - vonseiten des gewöhnlichen Lesers natürlich, aber auch vonseiten der Fachleute, Professoren oder Zeitungskritiker, die sich bemühen, ein lebendiges Porträt eines komplexen Phänomens zu zeichnen.

Gibt es eine Triester Literatur?

Die Frage wird im Allgemeinen auf einen Artikel über Stuparich zurückgeführt, den der Kritiker Pietro Pancrazi 1930 im “Corriere della Sera” veröffentlichte und in dem er einige besondere Merkmale der Triester Schriftsteller festhielt: «Problematismus, psychologisches Interesse, moralisches Hadern, expressive Anstrengungen». Das Thema wurde unzählige Male diskutiert und ist vor allem in brisanten Zeiten mit Überlegungen zum nationalen Charakter der Stadt verwoben (Gianfranco Contini, Carlo Bo).

Zu Pancrazis Merkmalen fügte der Triester Kritiker Bruno Maier noch andere hinzu: «Sinn für Konkretheit, Realismus, Ernsthaftigkeit» und vor allem «Anti-Literarizität». Später neigten andere Stimmen (Claudio Magris, Elvio Guagnini) dazu, diese Bemerkungen nur auf bestimmte Schriftsteller zu beziehen, die zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren tätig waren, und bekämpften die Tendenz, dieses Bild zu einem allzu weit gefassten und auskristallisierten Muster zu machen.

Firma Magris
Firma Magris
Firma Pancrazi
Firma Pancrazi

Akademische kritik und militante kritik

Die Frage der “literarischen Triestinität” betraf nicht nur die akademische Kritik, sondern auch diejenigen, die sich auf in Zeitungen dazu äußerten und die in Triest als “militant” bezeichnen werden konnte. Silvio Benco, der einflussreichste und langlebigste der Triester Journalisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war gegen die Idee, die “Triester Literatur” zu isolieren, denn sie sollte ein integraler Bestandteil der italienischen Nationalliteratur sein, Ausdruck einer unbestreitbaren Verbundenheit.

Als Kritiker hielt Benco alle bedeutenden Momente des literarischen Triest um die Jahrhundertwende fest. Im Jahr 1908 berichtete er über den ersten futuristischen Abend, 1919 schrieb er die Einleitung zu Sabas ersten Poesie und 1921 die erste italienische Rezension von Joyce’ Ulysses. 1923 war er wiederum der erste, der Svevos Zenos Gewissen rezensierte, den er Jahre zuvor bei der Zeitung “L’Indipendente” kennengelernt hatte.

coll BC Hortis
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Eine Stadt, Eine Literatur, Eine Sprache?

Nur selten ging die Debatte auf das ein, was heute als eines der charakteristischen Elemente der Triester Literatur erscheint: die Mehrsprachigkeit. «Niemand, nicht einmal die geheimen Späher, die Kafka und Freud lesen, merken, dass im Triester Karst Srečko Kosovel lebt» (Ara – Magris). Laut einem 1992 erschienen Artikel von Miran Košuta zum Thema Übersetzungen verhält es sich mit den slowenischen Schriftsteller aus Triest so, «als gäbe es gar keine» (Tamquam non essent).

Trotz der Verbundenheit mit der großen mitteleuropäischen Tradition und mit der deutschen und österreichischen Literatur in der Stadt Triest, die weit vor anderen italienischen Städten Nietzsche, Hebbel, Weininger, Strindberg, Kafka und Freud las und diskutierte, fand selbst die deutschsprachige Triester Literatur wenig Beachtung bei Kritikern und Übersetzern. Persönlichkeiten wie Däubler und Baumbach verschwanden für lange Zeit aus dem kulturellen Bewusstsein der Stadt.

coll BC Hortis
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Das Triest von Magris als Wendepunkt

Die Situation änderte sich erst in jüngerer Zeit, als der Fokus auf die interkulturelle Dynamik fiel. Der Silvio Benco unserer Zeit ist Claudio Magris. Der Germanist führt im Rahmen seiner langjährigen Tätigkeit als Kritiker systematische Untersuchungen zur Literatur in Triest durch. Als subtiler Feulletonist für den “Corriere della Sera” und andere Zeitungen, Herausgeber zahlreicher Vor- und Nachworte, schrieb er über Autoren (Pressburger, Roveredo, Prenz), mit denen er eng befreundet war.

Historische Zeitschriften wie “La Battana” in Rijeka und die slowenische “Most” in Triest haben den Kontakt zwischen den verschiedenen Seelen des Gebietes gefördert; die großen, in der Vergangenheit vernachlässigten Autoren, allen voran Joyce, stehen im Mittelpunkt fruchtbarer und langlebiger Initiativen wie der “Joyce School”; an der Universität wurde das “Archiv für Schriftsteller und regionale Kultur” eingerichtet; das Dizionario degli autori di Trieste, dell’Isontino, dell’Istria e della Dalmazia (Wörterbuch der Autoren von Triest, dem Isonzo-Gebiet, Istrien und Dalmatien) von Walter Chiereghin und Claudio Martelli wurde gedruckt und die Beilage “Il Piccolo Libri” wird jede Woche durch wertvolle Beiträge bereichert.

coll BC Hortis
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